Rezension zum Buch

Ganz Oben - Später Triumph am Everest

Die Unsichtbare Kraft

"Gehen, keuchen und Pause, gehen, keuchen und Pause, nur dafür reichte die verbleibende Kraft." So beschreibt der Chemnitzer Jörg Stingl die letzten Schritte bis zum Gipfel des Mount Everest. Dann endlich: Am 22. Mai 2001, gegen 17 Uhr, hat es Jörg Stingl geschafft - er steht "ganz oben".

Was treibt Menschen, diese Strapazen auf sich zu nehmen? Monate lang unterwegs, in mehr oder weniger komfortablen Unterkünften nächtigend, schließlich in den Bergen Schnee, Wind, Kälte ausgesetzt. "Beim besten Willen kann ich nicht mehr sagen, wie lange ich bis zum eigentlichen Gipfel benötigte. Wie viele bleischwere Schritte, wie viele mühsame Atemzüge? Vielleicht 30 Minuten, vielleicht eine dreiviertel Stunde? ... Es mag martialisch klingen, doch ich kämpfte fürchterlich um jeden Schritt, bis ich nicht mehr kämpfen musste. Bis ich diese unsichtbare Kraft, die sich mir im Aufstieg entgegen stemmte und mich zur Langsamkeit verdammte, überwunden hatte. Bis ich oben stand.

Auf dem Gipfel des Mount Everest. Ganz oben! Viele Stunden lang hat Jörg Stingl seinem Freund, dem "Freie-Presse"-Redakteur Thomas Treptow, von jener legendären sächsischen Himalaja-Expedition 2001 erzählt, und gemeinsam ist es ihnen gelungen, die Dramatik und die Faszination des außergewöhnlichen Unternehmens in Worten und Bildern wiederzugeben.

"Ganz oben" ist mehr als ein weiteres Bergsteigerbuch, das die schneebedeckten Gipfel glorifiziert. "Ganz oben" macht lebendig und auch nicht Eingeweihten nachvollziehbar, was Menschen antreibt, ungewöhnliche Anstrengungen für ein schier unerreichbares Ziel auf sich zu nehmen, es erzählt vom Wert der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Kameradschaft, es spart auch die Schattenseiten des Alpin-Tourismus nach Nepal nicht aus.

"Ganz oben" ist unterhaltsam und spannend zu lesen, ohne in flache Globetrotter-Anekdoten zu verfallen. Stingl und Treptow würdigen die Arbeit der nepalischen Sherpas, die in Expeditionsberichten oft ungenannt bleiben, eben so wie die Leistungen der Bergsteiger, denen es (noch) nicht vergönnt war, auf dem höchsten Gipfel der Erde zu stehen.

"Ganz oben" lebt auch von den exzellenten Fotos, die das Leben und die Bräuche in Nepal eben so widerspiegeln wie die bizarre Schönheit der Berge und die manchmal beinahe übermenschlichen Anstrengungen der sächsischen Bergsteiger.

"Ganz oben" ist ein bewegender Reisebericht, und es ist ein sehr persönliches und sehr ehrliches und deshalb berührendes Buch, das auch Züge einer Bilanz des bisherigen Lebens von Jörg Stingl trägt - mitsamt den Erfahrungen in zwei Gesellschaftsordnungen. Ein Buch über Siege und Niederlagen - nicht nur im Himalaja.
 
Text: Matthias Zwarg
Leiter des Buchprogramms der Freien Presse

Nanga Parbat - Tragödie am Schicksalsberg